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Nur ein starkes Europa kann sich in einer Welt im Wandel behaupten

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Hans Dieter Pötsch, Präsident der Deutschen Handelskammer in Österreich und Aufsichtsratsvorsitzender Volkswagen AG über die Herausforderungen einer Welt im Wandel

11_2023_Hans Dieter Pötsch_Interview_DiePresse

Die jüngsten Entwicklungen in der globalen Wirtschaft haben uns vor Augen geführt, dass die Ära der Globalisierung, wie wir sie aus den letzten Dekaden kannten, beendet ist. Das europäische Wirtschaftsmodell wird davon besonders hart getroffen, denn die europäischen Volkswirtschaften haben stark von offenen Märkten und expandierendem Außenhandel profitiert. Deutschland und ebenso Österreich in ganz besonderem Maße und sehr häufig gemeinsam. Doch ein Abgesang auf die Globalisierung wäre verfrüht und falsch. Vielmehr zeichnet sich eine veränderte Form der Globalisierung ab, die entschlossene Weichenstellungen und kluge Navigation von Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft erfordert. Hingegen sind Schockstarre, Veränderungsverweigerung oder gar Panikmache gänzlich fehl am Platz. Es geht dabei nicht darum, kurzfristige Maßnahmen als Reaktion auf konjunkturelle Schwankungen zu beschließen, sondern die strukturellen Weichen im Sinne einer umfassenden und langfristigen Transformation zu stellen, um den Wirtschaftsmächten USA und China auch langfristig auf Augenhöhe begegnen zu können.

Versorgungssicherheit
Die Lehren aus Corona-Pandemie und zunehmenden geopolitischen Verwerfungen sind klar: Wir dürfen nicht zulassen, dass kritische Infrastruktur und elementare Güter von einem einzigen Lieferanten oder Produktionsland abhängen oder sogar als Druckmittel gegen die vitalen Interessen Deutschlands, Österreichs und Europas eingesetzt werden können. 

Wir müssen daher zugleich Diversifizierung und Regionalisierung fördern, um unsere Versorgungssicherheit zu gewährleisten. 

Dafür sind auch jenseits ideologischer Verengungen neue internationale Partnerschaften nötig, die gemeinsame Interessen in den Vordergrund rücken. Und zugleich braucht es einen realistischen Pragmatismus, denn neue Lieferketten zu etablieren, ist keine Aufgabe, die über Nacht zu erledigen wäre. Die Vernunft gebietet es zu erkennen, dass manche Lieferketten erst schrittweise oder vielleicht auch gar nicht substituiert werden können und gerade auch solche mit chinesischen Partnern.

Offen für Zusammenarbeit
Die internationale Arbeitsteilung nach den Grundsätzen von David Ricardo wird durch den aufflammenden Protektionismus zunehmend ihrer Vorteile beraubt. Das ist für Verfechter marktwirtschaftlicher und liberaler Prinzipien mehr als betrüblich. Kein Staat ist und wird in der Lage sein, völlige strategische Autonomie bei Rohstoffen, Energie, Nahrungsmitteln und anderen lebenswichtigen Gütern zu erreichen. Internationale, grenzübergreifende Zusammenarbeit bleibt unerlässlich. Das trifft auch für die beiden größten Wirtschaftsmächte USA und China zu. Trotz des Wettlaufs, bestehende Abhängigkeiten von Dritten abzubauen, wird keiner der Wirtschaftsblöcke in der Lage sein, vollständige Autarkie herzustellen.

Die Geopolitik, das ist nicht zu übersehen, dringt verstärkt auch in den internationalen Handel vor. Wir müssen jedoch sicherstellen, dass gemeinsame Regeln die anerkannte Basis in der internationalen Zusammenarbeit bleiben. Protektionismus und Abschottung sind keine Lösungen und führen sowohl zu Mehrkosten als auch zu Wohlstandsverlusten. Stattdessen benötigen wir ein neues Regulierungssystem und ein neues Rahmenwerk für den internationalen Handel. Europa bleibt hier ein entscheidender Impulsgeber.  

Die bestehenden Institutionen wie Welthandelsorganisation, Weltbank oder Internationaler Währungsfonds sind möglicherweise nicht mehr ausreichend, um die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. Wir sollten grundsätzlich offen für die Zusammenarbeit mit jedem Land sein, das weder international geächtet ist noch Sanktionen unterliegt. Dies schließt auch China als zentralen Akteur mit ein. Gleichzeitig müssen wir sowohl die eigenen Interessen als auch die der Europäischen Union besser schützen und unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken. Die USA zeigen mit dem “Inflation Reduction Act” eindrücklich, wie es gehen kann. 

Potenziale konsequent nutzen
Die Europäische Union steht jedoch vor einer besonderen Herausforderung. Während die USA und China nationalstaatlich handeln können, muss die EU stets eine Abstimmung unter 27 Mitgliedstaaten herbeiführen. Zu oft handeln die Mitgliedstaaten nicht wie ein einheitliches Europa und verhaken sich im Klein-Klein. Dies ist ein strategischer Nachteil, den wir überwinden müssen, wenn wir in dieser neuen Weltordnung bestehen und erfolgreich sein wollen. Um unsere politische und ökonomische Handlungsfähigkeit zu bewahren, müssen wir im eigenen Interesse die EU-Reform deutlich vorantreiben und dadurch das vereinte Europa schneller, innovativer und einflussreicher machen.

Europa und andere große Wirtschaftsblöcke suchen gegenwärtig nach einem neuen, tragfähigen Wirtschafts- und Wachstumsmodell. Die Schuldenfinanzierung und die Exportorientierung haben ihre Grenzen erreicht. Ein neues Wachstumsmodell muss stärker auf den noch ausbaufähigen EU-Binnenmarkt ausgerichtet sein, die Dekarbonisierung fördern und mehr als bislang auf Wissenschaft und Technologie setzen. Viel wichtige Zeit ist bereits verspielt worden, ohne dass die europäischen Potenziale konsequent genutzt worden wären. Dabei herrscht in Europa, vor allem in Deutschland und Österreich Angst vor De-Industrialisierung, und diese Angst ist mit unterschiedlicher Betroffenheit durchaus berechtigt. Die aktuellen Veränderungen bei Energiepreisen, Inflation, Arbeitskräftemangel, gravierende Defizite bei der Digitalisierung von Arbeits- und Lebensbereichen und eine nur halbherzige und nicht ganzheitlich gedachte Transformation könnten zu einem massiven Verlust in der industriellen Fertigung führen. Dies würde etablierte Lieferketten ebenso gefährden wie traditionelle Verbindungen zwischen Industrie, Dienstleistungen und Grundlagenforschung. Es wären Tausende qualifizierter und gutbezahlter Arbeitsplätze sowie wertschöpfungsstarke Industrien in akuter Gefahr. Dies dürfen Deutschland, Österreich und die Europäische Union nicht hinnehmen.
 

Wir müssen uns auf ungemütlichere, volatilere und instabilere Zeiten einstellen. Die Lösung kann dabei nur in einem handlungsfähigeren und stärker geeinten Europa liegen. 

Stellschrauben anziehen
Aktuell sehe ich einige Stellschrauben, die wir im gemeinsamen Interesse dringend anziehen müssen: 

1.    Belastungsreduktion für europäische Wirtschaft
Das überbordende Berichtsverlangen der EU-Kommission hat wirtschaftsfeindliche Ausmaße angenommen und nährt den Eindruck eines permanenten Misstrauens gegenüber den wirtschaftlichen Akteuren. Die Mitgliedsfirmen der Deutschen Handelskammer in Österreich erwarten und beklagen z.B. die hohen Kosten, die durch die Einführung und dauerhafte Anwendung der EU-Richtlinie zur Unternehmens-Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD) entstehen. Die Kommission muss in der Regulierung stärker priorisieren und Reportingpflichten minimieren. Der Fokus muss dabei auf der “Once-Only” Regel liegen. Daten, die bereits einmal von einer EU-Institution erhoben wurden, können nicht nochmals erhoben werden, sondern müssen verwaltungsintern ausgetauscht werden. 

2.    Mehr Europa in der Energiepolitik.
Das alte, fossile Wirtschaftsmodell kommt an seine Grenzen. Energiepolitik darf daher nicht länger als nationalstaatliche Hoheitsaufgabe gedacht werden. Um wettbewerbsfähig zu bleiben und die Dekarbonisierung voranzutreiben, brauchen wir endlich mehr Europa in der Energiepolitik, in der jeder Mitgliedstaat seinen fairen Beitrag zur Energiewende leistet. Österreich und Deutschland gehen mit ihrer länderübergreifenden energiepolitischen Zusammenarbeit mit gutem Beispiel voran.

3.    Europa muss aus den Startblöcken kommen
Europa fällt in seiner Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftlichen Dynamik immer weiter zurück. Während in den USA und China Liefer- und Wertschöpfungsketten strategisch stärker ausgebaut, verdichtet und optimiert werden, tut sich Europa schwer Schritt zu halten bei Digitalisierung, Halbleiter- und Batteriefertigung sowie Fachkräften. Der beschleunigte und intensivierte Auf- und Ausbau eigener europäischer Kapazitäten und Kompetenzen ist daher von höchster Bedeutung. Die stark vernetzte Automobilindustrie als transformatives Zugpferd hat das Problem erkannt und geht dies mit Nachdruck und großen Investitionen an. Doch nur der Schulterschluss mit der Politik kann zu den dringend benötigten Ergebnissen führen.

4.    Bildung und Innovationskraft stärken
Die auskömmliche Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft gehört zu den legendären stärken Europas. Dies muss intensiviert werden. Hier sollte eine Priorisierung von Bildungsaktivitäten bei und für Zukunftstechnologien stattfinden, von der grund- bis zur universitären Hochschule. Denn so könnte die Inventionskraft erhöht werden. Und im Zusammenspiel mit einer gesamtgesellschaftlich höheren Risikobereitschaft dann auch die Innovationskraft.

5.    Zukunftsfähigkeit sichern, Mittelstand entlasten
Die Einhaltung der Schuldenbremse in Deutschland und Österreich ist absolut richtig. Wir brauchen deshalb mutige Entscheidungen in der Steuer- und Finanzpolitik zur Entlastung der Wirtschaft, gerade mit Blick auf den so wichtigen Mittelstand und die Familienunternehmen. Bei Zukunftsinvestitionen, nicht für Konsum und laufende Kosten, muss es aber mehr Spielraum geben. Dieser muss einerseits durch eine neue zukunftssichernde Priorisierung der staatlichen Ausgabenpolitik erreicht werden. In der aktuellen Phase der Transformation darf die Schuldenbremse anderseits aber auch nicht zu einer Wachstumshürde werden. Hier sind intelligente Flexibilitäten im Interesse unserer beiden Länder und der Europäischen Union notwendig.

Q: DiePresse, 24.11.2023
Foto © DHK/Günther Peroutka

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